Otto Lilienthal und die Vehliner Störche

 

von Helmut Seeger, Schwerin

(ergänzt mit Fotos der Vehliner Störche 2010)

 

Etwa drei Kilometer südlich der Bundesstraße 5 und sieben Kilometer nördlich der Eisenbahnlinie Berlin-Hamburg, liegt, abgeschieden in der Karthaneniederung, das Prignitzdörfchen Vehlin. Umgeben von grünen Wiesen und fruchtbaren Feldern, ermöglicht es seinen Einwohnern ein geruhsames Leben. Zur Zeit ziehen alljährlich ein bis zwei Weißstorchenpaare im Ort ihre Jungen auf. Doch das war vor hundert und mehr Jahren anders. Man höre und staune, im Jahre 1895 brüteten auf den 40 Gehöften des Dorfes 54 Storchenpaare, die in der grünen Karthaneniederung ausreichend Nahrung fanden. Das war ein geklapper, wenn im Frühjahr die Störche aus den Winterquartieren in Vehlin eintrafen und es gab zuweilen auch heftige Kämpfe unter ihnen, um die günstigsten Neststandorte. Wenn dann Ende Juli, Anfang August, die Jungstörche flügge wurden, war die Luft erfüllt vom Brausen der Schwingen, und in großen Kreisen schraubten sich die vielen Störche in die Höhe.

Weißstorch
Weißstorch - Altstörche

Der bekannte Flugpionier Otto Lilienthal wurde am 23. Mai 1848 in Anklam geboren. Nach seinem Einsatz als Freiwilliger im deutsch-französischen Krieg 1870/71, kam er 1871 nach Berlin, wo er eine Anstellung bei einer Maschinenbaufirma fand, in der er bis 1880 als Konstruktionsingenieur tätig war. 1881 gründete er eine eigene Maschinenbaufirma in Berlin.

Schon als Gymnasiast befasste sich Lilienthal mit Vogelflugstudien, und er betrachtete den Vogelflug als Grundlage für den Menschenflug. 1889 erschien sein Buch: ,,Der Vogelflug als Grundlage der Fliegerkunst." 1891 erreichte er bei seinen Sprung- und Flugübungen, mit den von ihm konstruierten Flugapparaten, in Derwitz bei Potsdam, Weiten von 25 und 30 Metern und so gilt das Jahr 1891 als Beginn des Menschenfluges. Die Deutsche Bundespost verausgabte aus Anlass des 100. Jahrestages dieses Ereignisses am 9. Juli 1991 einen Gedenkblock mit einem Porträt Lilienthals sowie seinem Flugapparat. Zahlreiche europäische und überseeische Postverwaltungen würdigten dieses Ereignis mit der Herausgabe von Sonderpostwertzeichen.

Weißstorch-Küken
Altstorch

1893 beginnt Lilienthal am Gollenberg bei Stölln, unweit des Städtchens Rhinow, auf halben Weg zwischen Neustadt (Dosse) und Rathenow mit seinen Flugübungen und es gelangen ihm Gleitflüge bis zu 250 Metern. Am 9. August 1896 stürzte er mit seinem Segelapparat infolge einer Windbö in den Stöllner Bergen ab und wurde schwer verletzt. Man brachte ihn noch am gleichen Tag nach Berlin, wo man ihm aber auch nicht mehr helfen konnte, denn am folgenden Tag verstarb er. So fand am 10. August 1896 ein unermüdliches Forscherleben sein tragisches Ende.

Über die Verbindungen, die Lilienthal zur Prignitz hatte, ist recht wenig bekannt. Nach seinen eigenen Aufzeichnungen war er im Jahre 1895 zwei Mal in Vehlin, um hier den Schwebeflug der Störche zu studieren, und daraus Schlüsse für die Konstrukution und die Handhabung seiner Flugapparate zu ziehen.
Um Näheres über die Aufenthalte Lilienthals in Vehlin zu erfahren, lenkte ich meinen Wagen dorthin und fand in dem Ortschronisten, Herrn Sietmann, einen hilfsbereiten Partner, der mir mit aufschlussreichen Unterlagen dienen konnte.

Storchennest Vehlin
Jungstörche im Nest

Schon 1888 hatte Lilienthal auf einer Reise von einem Bekannten erfahren, dass in dem Dorf Vehlin bei Glöwen auf jedem Dache zwei bis drei Storchennester seien und hunderte von Störchen die Dächer umkreisten. Er selbst bemerkt dazu: ,,Die Aufzeichnung dieser Adresse hat wohl sieben Jahre in meinem Notizbuch geschlummert, bis ich die letzten schönen Ostertage 1895 verwendete, in Begleitung meiner beiden Buben einen Ausflug nach Vehlin zu machen. Der zweistündige Weg von der Station Glöwen führte uns durch Dörfer, die sich keineswegs durch besonderen Storchenreichtum auszeichneten. Ich glaubte schon, der gute Mann hätte etwas aufgeschnitten. Als wir uns jedoch dem Dorfe Vehlin näherten, riefen meine Jungen: ,,Dort ist ja ein Storchennest! - Dort noch eins! Noch eins - Dort zwei auf einem Dach! - Dort noch zwei!" Der freundliche Ratgeber hatte vollkommen recht, denn auf den 40 Häusern des kleinen Dorfes waren nicht weniger als 54 Storchennester, um welche die einzelnen Paare sich teilweise noch stritten, und in welchen auch das Brutgeschäft schon begonnen hatte."

Junge betteln nach Futter

Otto Lilienthal hatte sich also vom Storchenreichtum in Vehlin überzeugt. Für seine Flugstudien war es jedoch noch zu früh im Jahr, und so musste er zu einem späteren Zeitpunkt nochmals in die Prignitz kommen. In Begleitung des Fotografen Dr. Fülleborn begab er sich im August des gleichen Jahres nochmals nach Vehlin. Auf einem Bauernhof, auf dessen Gebäuden sich fünf Storchennester befanden und von dem aus sie noch weitere Nester auf den angrenzenden Gebäuden sehen konnten, richteten sie ihren Beobachtungsstand ein. Zahlreiche Jungstörche waren bereits flügge und übten sich im lautlosen dahingleiten. Einige standen auch noch auf den Nestern und legten, wenn sich ihre Eltern dem Nest näherten, den Kopf in den Nacken und begrüßten sie mit Schnabelgeklapper. Dr. Fülleborn machte zahlreiche Storchenaufnahmen und Otto Lilienthal konnte ausführlich den Segelflug der Störche studieren.

ältere Jungstörche
Tanz der Alten
Junger Weißstorch fliegend

In einem Vortrag unter dem Titel: ,,Unsere Lehrmeister im Schwebeflug“, der ein Jahr nach seinem Tode in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift ,,Prometheus“ veröffentlicht wird, berichtet Lilienthal über seine Beobachtungen und Erkenntnisse des Storchenfluges. Er führte unter anderem aus: „Wir Menschen quälen uns seit Jahrtausenden, hinter die Rätsel des Fluges zu kommen und sind schon froh, wenn wir tropfenweise aus dem Born der Erkenntnisse schöpfen können, und hier wird von den Störchen in einer Weise mit dem Flugvermögen gewuchert, als gäbe es in aller Welt nichts Leichteres als das Fliegen.“.

Wenn man die von mir gekürzten Ausführungen Otto Lilienthals, die er vor mehr als einhundert Jahren machte, liest, kommt man zu dem Schluss, dass er ein sehr guter Beobachter war und die einzelnen Bewegungsabläufe beim Segelflug der Störche sehr exakt beschrieben hat. Wenn auch sein Wirken durch den frühen Tod nicht über die Anfänge des Segelfliegens hinweg kam, haben seine Studien und seine Flugversuche doch den Grundstein gelegt für den heutigen weltumspannenden Flugverkehr.

Storchenflug Silhouette
   

Literatur
Lilienthal, 0. (1889) Der Vogelflug als Grundlage für den Menschenflug
Lilienthal, 0. (1897) Unsere Lehrmeister im Schwebeflug, Zeitschrift ,,Prometheus"

Anschrift des Verfassers:
Helmut Seeger, Gagarinstr. 2

19063 Schwerin

 


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